J. Madsen u.a. (Hrsg.): Cassius Dio the Historian

Cover
Titel
Cassius Dio the Historian. Methods and Approaches


Herausgeber
Madsen, Jesper Majbom; Lange, Carsten Hjort
Reihe
Historiography of Rome and Its Empire
Erschienen
Anzahl Seiten
468 S.
Preis
€ 133,75
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jack W.G. Schropp, Historisches Seminar, Fachbereich Alte Geschichte, Universität Zürich

Nachdem ich vor wenigen Jahren den ersten Band in der damals neuen Reihe „Historiography of Rome and Its Empire“ zu Cassius Dio besprechen durfte1, ist es erfreulich zu sehen, dass seitdem weitere Bände zu dem severischen Historiker in derselben Reihe erschienen sind, die unser Bild des dionischen Geschichtswerkes bereits jetzt schon nachhaltig bereichern und prägen. Auch der hier zu besprechende und von Jesper Majbom Madsen und Carsten Hjort Lange herausgegebene Band lässt sich in diese Linie stellen und ist im Speziellen bemüht, die methodische Arbeitsweise und auktoriale Herangehensweise Cassius Dios aufzuzeigen. Auf die Einleitung (S. 1–21) und einen lesenswerten wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsüberblick zum 20. und 21. Jahrhundert von Valérie Fromentin (S. 23–58) folgen 16 Aufsätze, die auf drei Themenblöcke verteilt sind.

Der erste Themenblock zur „Methodology“ (S. 61–191) beginnt mit dem exzellenten Beitrag von Mads O. Lindholmer über Cassius Dios Verwendung des durch Livius geprägten annalistischen Models für die Beschreibung der Späten Republik. Entgegen der bisher mehrheitlich angenommenen Vermutung habe Dio das annalistische Schema nicht einfach mechanisch übernommen; vielmehr seien die typischen annalistischen Darstellungselemente der Magistratswahlen, Omina und der Gesetzgebung nur selektiv zum Einsatz gekommen und zwar mit dem Ziel, die Monarchie als Antwort auf den destruktiven Charakter der politischen Konkurrenz unter den spätrepublikanischen Politikern zu präsentieren. Im Ergebnis mager bleibt der Beitrag von Christopher Baron, der den historiographischen Einfluss Herodots auf Cassius Dio herauszuarbeiten versucht: Dio wird sicherlich „all the historiographical tools at his disposal“ genutzt haben (S. 104), ohne den Nachweis wirklicher sprachlicher oder szenischer Anleihen wird man aber damit eine Einflussnahme der herodoteischen Darstellung auf das Werk Dios nicht erhärten können. Als nächstes setzt sich Konstantin V. Markov mit der Periodisierung im dionischen Werk auseinander. Er hält dabei fest, dass das Fehlen einer präzisen Chronologie und der Einsatz von Verfassungszyklen für transitorische Momente in der Römischen Geschichte gesorgt hätten, was besonders deutlich am Übergang von der Republik auf die Monarchie hervortrete.

Am Beispiel des Aufstandes der pannonischen Legionen kurz nach dem Tod von Augustus will Josip Parat eine der Arbeitsmethoden Dios aufdecken: Anders als Tacitus (ann. 1.16–30) habe dieser nur eine Zusammenfassung der Revolte geboten, da es ihm nicht um eine exakte Nacherzählung gegangen sei; stattdessen habe Dio mit diesem Beispiel und anderen in seinem Werk behandelten Truppenerhebungen die Unverlässlichkeit von Armeen aufzeigen wollen (vgl. S. 140–142). Mit Dios Verwendung der direkten Rede in den Bücher 1 bis 53 hat sich Christopher Burden-Strevens näher befasst, dessen Ausführungen zwar zum Nachdenken anregen, aber nicht immer überzeugend sind. So wird zu Recht von ihm betont, dass die oratio recta im Laufe der Bücher an Bedeutung gewinnt und sie eine elaboriertere historiographische Ausarbeitung erfährt, allerdings mag dies auch am sehr fragmentarischen Zustand mancher Bücher liegen (angesprochen auf S. 163), was gerade für die Bücher 22 bis 35 gilt. Darum überrascht es auch nicht, dass diese in der Analyse übergangen wurden (vgl. S. 175). Ganz zustimmen wird man auch seiner Typologisierung der Quellenarbeit Dios bei der Anfertigung der Reden nicht: Dass veröffentlichte sowie bereits durch andere Historiographen verarbeitete Reden benutzt und weiterverarbeitet wurden, ist sicherlich richtig. Überzogen dafür ist die Annahme, Dio hätte allein auf der Grundlage von Testimonien den Inhalt ganzer Reden erfunden (vgl. S. 158–160); im Gegensatz zu den eher frei komponierten Reden wie jener des Maecenas in Buch 52 lässt sich nicht ausschließen, dass Dio auch die uns nur durch testimonia bekannten Reden eingesehen hat. Schließlich macht er ohne Erklärung aus einer bei Zonaras überlieferten oratio obliqua eines anonymen Senators über die negativen Folgen der Zerstörung Karthagos für Rom (9.30.7f.) einfach eine direkte Rede und überlegt sogar, ob hier nicht Cassius Dio spreche (S. 174f.).2

Auch im nächsten Block zum Thema „Writing Contemporary History“ (S. 195–312) sind fünf Beiträge versammelt.3 Größere Aufmerksamkeit verdienen die Aufsätze von Andrew G. Scott und Jesper M. Madsen, die beide ausgehend von der Augenzeugenschaft unterschiedlichen Mehrheitsmeinungen in der Forschung widersprechen. Für Scott verkörpere Dio mit der Kritik an seinem gesellschaftlichen Stand und den Severen nicht das Idealbild eines Senators; vielmehr müsse man die Betonung der Autopsie und Akribie in seinem Werk als eine Wiedergutmachung für sein Schweigen während der Herrschaft von Septimius Severus und Caracalla verstehen (S. 234). Madsen hingegen hinterfragt die Verlässlichkeit der dionischen Zeitgeschichtsschreibung am Beispiel der Herrschaft des Septimius Severus; ihre Beschreibung falle im Gegensatz zur Erzählung über die tiberianische Herrschaft deutlich weniger informiert aus und sei stärker trivial gehalten, weswegen Dio akkurater über die Vergangenheit als über die Gegenwart berichtet habe (S. 260, 269).

In den anderen drei Beiträgen des zweiten Themenblockes stehen historische und zeitgenössische Figuren im Zentrum der Analysen. Umsichtig unternimmt Adam M. Kemezis den Versuch einer historischen Neuinterpretation der von Dio wohl als Kind miterlebten Erhebung des Avidius Cassius im Jahr 175 n. Chr. Durch den Vergleich mit den Berichten aus der Historia Augusta werde laut Kemezis zwar klar, dass es sich bei Dios Darstellung um eine idealisierte Version handelt, in welcher „any divisions within the elite“ minimiert werden sollte, und die den Aufstand als „a combination of unfortunate misunderstandings“ hinstellt (S. 196, 206). Dies dürfe aber nicht dazu führen, in der Revolte des Avidius eine Planmäßigkeit zu erkennen, in der es von Anfang an um die Erringung der Alleinherrschaft gegangen sei: Vielmehr würde das Fehlen von militärischen Aktionen nach der Erhebung gegen den fälschlicherweise für Tod erklärten Kaiser für Hoffnungen auf eine friedliche Lösung sprechen, die aber in den Augen anderer Machtfiguren im Reich nicht mehr in Frage gekommen sei (vgl. S. 212–216). Dass Marcus Aurelius sich für die erste Option entschieden hätte, steht zumindest für Cassius Dio fest: Hätte der Kaiser nämlich Avidius Cassius lebend zu fassen gekriegt, wäre er von ihm verschont worden (72[71].30.4).

Alex Imrie sucht in seinem Beitrag nach den Parallelen zwischen den machtvollen und später bei ihren Kaisern in Ungnade gefallenen Prätorianerpräfekten Sejanus und Plautianus. Beide würden sich in so vielen Bereichen ähneln, dass Sejanus ein „spectre of Plautianus superimposed upon the Julio-Claudian era“ und umgekehrt Plautianus ein „new Sejanus for the new Severan era“ sei (S. 286, 289). Ihre Hervorhebung durch Dio sei eine Besonderheit, weil er anderen praefecti praetorio bei Weitem nicht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dies lasse sich damit erklären, dass Sejanus und Plautianus sinnbildlich für die Verfehlungen ihrer Kaiser stünden, die ungeeignetes Personal in Machtpositionen gebracht hätten. Deutlich schwächer in seiner argumentativen Stringenz erweist sich der von Graham Andrews bemühte Vergleich zwischen Cicero und Caracalla. Es gelingt ihm nicht, zwischen dem gegen Cicero vorgebrachten Vorwurf, ein Zauberer und Magos zu sein, und den negativ bewerteten Vorlieben des Kaisers für die Magoi und Zauberer (gontes) eine überzeugende intratextuelle Verbindung herzustellen (vgl. Cass. Dio 46.4.1; 78[77].17–18).

Im dritten und letzten Themenblock geht es um „Approaches to Politics and War“ (S. 315–457). Wie Eric Adler in seinem Beitrag betont, gilt Dio unter den Historiographen, welche die römische Expansion behandelt haben, als große Ausnahme, da er im Laufe seines Werkes wiederholt eine anti-imperialistische Haltung einnimmt, das selbstsüchtige Verhalten von Feldherren kritisiert und sich für eine moderate Außenpolitik ausspricht. Ein Pazifist und Isolationist sei er deshalb aber nicht gewesen, da ihm bewusst war, dass nur eine erhöhte Wehrfähigkeit die Sicherheit des Reiches gewährleisten konnte. Aus diesem Grund verwundere es auch nicht, dass Hadrian für Dio der ideale Kaiser in außenpolitischen Angelegenheiten gewesen sei (vgl. S. 328). Den innerstaatlichen Gewaltformen am Beispiel der Hinrichtung von 300 Rittern und Senatoren nach dem Perusinischen Krieg im Winter 41/40 v.Chr. wendet sich Carsten H. Lange unter Anwendung der vom Politologen Stathis Kalyvas aufgestellten Kategorien „indiscriminate“ und „selective violence“ zu, was er schon an anderer Stelle getan hat.4 Er spricht sich dafür aus, dass es sich hierbei um einen willkürliche Form der Gewaltanwendung durch Octavian gehandelt hat, der damit seine bis dahin schwache Machtposition in Italien stärken wollte (S. 354, 357).

Die nächsten zwei Aufsätze widmen sich ganz unterschiedlichen Inhalten: Zunächst untersucht Antonio Pistellato die rhetorisch geschickt konstruierte Brüskierung der Senatorenschaft durch Nero in den Beschreibungen der ludi maximi und den Iuvenalia im Jahr 59 n. Chr., sodann den abfällig geschilderten Einzug desselben Kaisers in Rom nach seiner Griechenlandreise im Jahr 67 n. Chr. Alle drei Episoden seien ein Echo der von Dio erlebten Degradierung der Senatoren vor allem durch Commodus und Caracalla (vgl. S. 380–382), weswegen nur eine lateinische und in einem stoischen Umfeld entstandene Quelle für die Beschreibung der neronischen Jahre in Frage komme (S. 379). Jesper Carlsen hat hingegen alle Stellen zur römischen Wirtschaftsgeschichte in den fast vollständig erhaltenen Bücher 36–60 zusammengetragen und eine auffallende Häufung von Themen der Schuldentilgungen, Landenteignung und Steuererhebungen festgestellt. Mit der Etablierung der augusteischen Herrschaft seien die damit vor allem in spätrepublikanischer Zeit auftretenden Konfliktfälle aus der Erzählung verschwunden, womit Dio die Transformation des römischen Staates in eine Monarchie legitimieren wollte (S. 397f., 401).

Im Mittelpunkt der letzten zwei Aufsätze des dritten Themenblockes stehen zwei Frauen, erstens die illyrische Königin Teuta und zweitens die Gattin des Augustus Livia. Laut Brandon Jones seien Teuta und andere Frauen in den Büchern zur königlichen und frührepublikanischen Geschichte als eindimensionale Personenbilder von Gut und Böse entworfen worden, um komplexe Charakterbeschreibungen von kaiserzeitlichen Frauen im späteren Teil des Geschichtswerkes besser einordnen zu können (S. 420–422). In einer ersten von insgesamt drei Studien will schließlich Julie Langford dem Phänomen der „dowager empresses“ nachgehen, die als Ehefrauen und Mütter sowohl ihren Gatten als auch ihren Söhnen als Kaiserinnen zur Seite standen. Neben Livia sind dies Agrippina die Jüngere und Julia Domna. Ihr Verhalten sei toxisch, heimtückisch und selbstsüchtig gewesen, da sie das Verhältnis zwischen Kaiser und Senat gestört und einen negativen Einfluss auf die Nachfolgeregelung ausgeübt hätten (vgl. S. 452, 454). In diesem Sinne seien Livias noch zu Lebzeiten von Augustus unterdrückten Machtambitionen erst unter der Herrschaft ihres Sohnes Tiberius voll zum Vorschein gekommen, dem sie eine Rivalin bis zu ihrem Tod sein sollte.

Es lässt sich abschließend festhalten, dass ungeachtet der unterschiedlichen Güte der Aufsätze der Sammelband an sich eine wertvolle Bereicherung für die Forschung zu Cassius Dio darstellt, da in ihm verschiedene Facetten der historiographischen Methode Dios herausgearbeitet und etablierte Forschungsmeinungen mitunter hinterfragt werden. Die weitere Forschung wird aber nicht umhinkommen, sich in den künftigen Jahren auf die von Fromentin eingangs betonten Aufgabenfeldern zu konzentrieren (S. 40f.), nämlich auf eine ernsthafte Beschäftigung mit den sprachlichen, stilistischen und intertextuellen Seiten des dionischen Werkes und vor allem auf die fragmentarisch überlieferten Bücher, welche gegenwärtig eine neue kritische Bearbeitung erfahren.

Anmerkungen:
1 Siehe Plekos 20 (2018), S. 163–172.
2 So auch in seiner Monographie: Cassius Dio’s Speeches and the Collapse of the Roman Republic. The Roman History, Books 3–56, Leiden 2020, XVI, S. 163f.
3 Siehe aktuell zur Zeitgeschichtsschreibung den „Entretiens“-Band von Valérie Fromentin / Pascale Derron (Hrsg.), Écrire l'histoire de son temps, de Thucydide à Ammien Marcellin, Genève 2022.
4 Stathis N. Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006; vgl. Carsten H. Lange, The Logic of Violence in Roman Civil War, in: R. Westall (Hrsg.), The Roman Civil Wars: A House Divided, Hermathena 196/197, 2018, S. 69–97.

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